Neuer Mensch
Die ungeheure Relativität von Silvester manifestiert sich schon in der Tatsache, dass jede Zeitzone einen separaten Urknall hat. Wenn wir in Deutschland die Korken fahren lassen, schläft etwa in Tokio die Mehrscheit schon ihren Rausch aus, während in Los Angeles der "Champagne" gerade erst aus dem Supermarkt-Regal gerissen wird. Silvester ist also so wenig ein Naturereignis wie die Einteilung der Zeit in Monate und Wochen (während Jahre und Tage ja durchaus etwas mit den Gestirnen zu tun haben).
Wer also die Nullstellung zwischen Dezember und Januar für einen Wendepunkt hält, der muss schon seinen Kopf ordentlich auf eine ganz persönliche Software trimmen, um zum Beispiel ein neuer Mensch zu werden. Trotzdem werde ich das Jahr für Jahr erneut. In meinem ungeheuer bürokratischen Bewusstsein erstelle ich etwa neue Verzeichnisse auf dem Rechner, beackere meine Adressensammlung, schließe die Musikalienabteilung für das abgelaufene Jahr ab, um sie allmählich in das allgemeine Archiv wandern zu lassen. Ich könnte nun alles anders machen, könnte mein Tun und Lassen hinterfragen, um vielleicht zu völlig neuen Erkenntnissen und Handlungsanweisungen zu gelangen. Stattdessen begnüge ich mich jedoch damit, Verzeichnisse zu schaffen und Archive abzuschließen. So suggeriere ich mir einen Neubeginn und bleibe so schlau wie zuvor. Das geht so lange gut, bis die Natur zuschlägt - aber das wird sie voraussichtlich nicht am 1. Januar tun, obgleich das schön und praktisch wäre.